Mommy Despentes sprich uns frei vom Genderregime
Melanges trinken mit Sissi, Gendernormen niederreissen mit Paul B. Preciado und einmal quer durch ein Jahrhundert Feminismus sliden mit meinem überbeanspruchten Brain.
Mit einem Stapel Bücher im Gepäck steige ich in den Zug nach Wien. Unter anderem habe ich Judith Hermans «Truth and Repair», Kim Possters «Männlichkeit verraten!» und Carmen Maria Machados «Das Archiv der Träume» dabei. Obwohl das mehr als genug Lesematerial wäre, gehe ich zuallererst in die nächstbeste queerfeministische Buchhandlung und kaufe mir Laura Leupis «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt».
Ich bin immer noch damit beschäftigt, all die toxischen Literatur- und Popkulturmänner, die ganzen patriarchalen Narrative, mit denen ich aufgewachsen bin, aus meinem System zu löschen. Deshalb bin ich so versessen darauf, mir einen neuen Referenzrahmen aufzubauen und auf das Erlernen und Entwickeln von Wörtern, Ideen und Narrativen, die nicht zum Zweck haben, mich zu unterdrücken, sondern mich zu befreien. Zunehmend werden die Burroughs, Kerouacs, Bukowskis, Thompsons, Kinskis und Freuds von den Stefans, Machados, Despentes, Woolfs, hooks und Hermans überblendet.
In Wien bin ich zwei Wochen im Schreib-Retreat. Tagsüber ringe ich um Worte, weil ich es mir zur Aufgabe gemacht habe, das Unsagbare zu erzählen. In den glatt geschliffenen Marmortischplatten der Kaffeehäuser spiegeln sich meine Zweifel. Ich hätte schon längst wieder aufgegeben, wenn ich mich nicht in einem zuversichtlichen Moment um einen Förderbeitrag an mein Projekt beworben hätte. Nun habe ich 20k auf dem Konto und die Verpflichtung, den Text, an dem ich seit Jahren kaue, fertigzustellen. Abends binge ich «Sisi», die RTL-Serie. Ich bin bereits seit meinem Aufenthalt im Südtirol vor zwei oder drei Jahren obsessed mit der Kaiserin, damals schaute ich die Verfilmung mit Romy Schneider zum ersten Mal und klickte mich einmal quer durchs Internet, von Sisis Anker-Tätowierung, die man bei der Obduktion nach ihrem Tod entdeckte, zu Romy Schneiders angeblicher Bisexualität und weiter zu deren Verbindung zu Alice Schwarzer. Ich erfahre, dass sie 1971 Teil der von Alice Schwarzer initiierten Aktion «Wir haben abgetrieben» war und sich neben über 300 weiteren Frauen öffentlich dazu bekannte, abgetrieben zu haben. Teil der ersten Emma-Ausgabe war dann auch ein Romy-Schneider-Interview und Schwarzer schrieb später ein Buch über die Schauspielerin, das ich kaufen würde, wenn ich damit nicht die transfeindliche und rassistische Hetze, für die Alice Schwarzer heute steht, unterstützen täte.
Zum Glück sind nicht alle Second-wave Feminist Icons derart abgedriftet. Judith Herman zum Beispiel, ist gerade letztes Jahr mit «Truth and Repair» 30 Jahren nach ihrem letzten Banger «Trauma and Recovery» wieder aufgetaucht und scheint die Kurve ganz gut gekriegt zu haben. In «Truth and Repair» hört sie an erster Stelle Betroffenen zu, da sie der Meinung ist, dass Überlebende von Gewalt die Gesellschaft zu einer besseren Gerechtigkeit führen können. Ich erfahre in dem Buch ausserdem, dass im gleichen Jahr, in dem in Deutschland das Schweigen zu Abtreibungen gebrochen wurde, es in den USA zu einem ersten grossen Speak Out on Rape von Überlebenden sexualisierter Gewalt kam. Es war der Anfang der US-Amerikanischen Anti-Rape Bewegung. Inzwischen haben sich die Modalitäten des Schweigens und des Schweigenbrechens verändert. Über ein halbes Jahrhundert später schreibt Laura Leupi in «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» über das Schweigenbrechen:
«Das Schweigenbrechen ist der Fetisch des öffentlichen Diskurses über sexualisierte Gewalt. Das Schweigenbrechen wird eingefordert, angeordnet, ritualisiert.
Diese Einforderung ist eine heimtückische, denn längst nicht jedes Schweigenbrechen wird gehört und verstanden. Und längst sind es nicht mehr nur die Betroffenen, die zu Schweigenbrecher:innen werden sollen.
Wir kennen ihre Geschichten. Wir haben ihre Zahlen. Das Schweigen sollten diejenigen brechen, die es sich im Schweigen gemütlich gemacht haben.»
Laura und ich werden btw bald gemeinsam aus unseren Texten lesen, Laura aus «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» und ich aus meiner Baustelle «Gaslicht», am 2. Mai im Humbug in Basel, moderiert von Nadia Brügger.
Nach einer Woche Melanges trinken, Wörter suchen und Sisi bingen, mache ich eine Pause von meinem silly Autorinnenalltag. Ich gehe ins Kino, es läuft Paul B. Preciados «Orlando, My Political Biography». Preciado übersetzt darin Virginia Woolfs «Orlando» in eine kollektive genderqueere Biografie und lässt Woolfs Fiktion und die Realitäten der Protagonist*innen ineinanderfliessen. Der Film endet damit, dass Virginie Despentes als Richterin die Abschaffung der Zuweisung des Geschlechtsunterschieds bei der Geburt ausruft und allen im Film vertretenen Personen das Recht auf selbstbestimmte Genderidentitäten zuspricht. Während Danny Orlowski von den Deli Girls den Soundtrack screamt, befreit Mommy Despentes die Welt vom hyperbinären Genderregime. I’m not gonna lie, ich würde für immer auf Cappuccinos verzichten, wenn dafür diese Fantasie genau so Wirklichkeit werden würde.
Apropos Genderregime: Heute findet in Zürich eine Demonstration gegen transfeindliche Berichterstattung statt. Verschiedene Journalist*innen bei Medien wie dem Tagesanzeiger oder dem SRF sind nämlich schon länger auf den Alice-Schwarzer-Train aufgesprungen und publizieren regelmässig Falschinformationen und gefährliche Mythen. Es gibt auch diesen offenen Brief zum Unterschreiben. A whole load of Informationen und Offenlegungen transfeindlicher Berichterstattung sind hier oder hier zu finden. Also ich würde hingehen, zur Demonstration, wäre ich nicht in Wien. Stattdessen muss ich hier noch ein zweitletztes Mal Sachertorte essen im Jelinek oder Schnitzel im Savoy oder Frankfurter mit Senf und Kren im Weidinger und mir noch den letzten Rest Verstand aus dem Kopf raus schreiben.