All I want for Christmas is moral repair und Konsequenzen für Constantin Seibt
It's all about trauma theory and moral repair, bitches! Ein Repost meines Leserbriefes an die Republik als Reaktion auf das unterirdische Tagi-Interview mit Verwaltungspräsident Michel Huissoud.
Ich verfolge den Umgang der Republik mit den Vorwürfen sexualisierter Übergriffe durch einen Republik-Journalisten seit ich von diesen Vorwürfen Kenntnis habe, also bereits ein paar Jahre. Ich verfolgte also das Schweigen, sowie dessen Ende und was danach kam. Als Person, die innerhalb der Kultur- und Journalismusbranche selbst Gewalt erfahren hat, habe ich besonderes Interesse an der Aufarbeitung dieser Geschichte. Ich habe auch Interesse daran, da ich vor ein paar Jahren selbst mit dem betreffenden Journalisten zu tun hatte. Er ermöglichte mir bei der Republik ein Essay zu veröffentlichen, als ich noch ganz am Anfang meiner sogenannten Kariere stand. Auch ich bin also in einem Machtverhältnis zu ihm gestanden, welches er auch ausgenutzt hat, zum Glück aber nicht so weit, dass es mich nachhaltig geschädigt hätte, wie er es MUTMASSLICH bei einigen anderen jungen schreibenden Frauen getan hat.
Seit ich die schwere Depression überwunden habe, mit der ich infolge meiner eigenen Gewalterfahrung und der daraus resultierenden Traumabelastung zu kämpfen hatte, arbeite und recherchiere ich zum Thema Abuse und Trauma. In den vergangenen zwei Jahren habe ich mir dadurch eine gewisse Expertise zu dem Thema aufgebaut. Ich habe also auch als Expertin ein Interesse am konkreten Fall und allgemein Aufarbeitungsprozessen von patriarchaler Gewalt und als solche möchte ich auf das Interview mit dem Verwaltungsratspräsident der Republik Michel Huissoud, das am 10.11.2023 beim Tagesanzeiger erschienen ist, reagieren.
An erster Stelle möchte ich betonen, dass ich positiv überrascht war, wie schnell und sauber die Untersuchungen liefen, dass den Betroffenen geglaubt wurde und daraus in der Konsequenz eine sofortige Kündigung der MUTMASSLICH gewaltausübenden Person folgte. Dass man sich bei der Republik nun darauf auszuruhen scheint, ist aus meiner Sicht aber falsch und ich werde in dieser Mail versuchen aufzuschlüsseln, weshalb.
Angesprochen auf den Umgang mit den Vorwürfen bei der Republik zum Zeitpunkt der Anstellung des Journalisten sagt Michel Huissoud:
«Das war unpassend, ja. Schlussendlich ist aber der Hauptverantwortliche die Person, von der wir uns nun getrennt haben. Die Trennung von ihm ist für mich daher die Hauptmassnahme.»
Diese Aussage ignoriert, dass Gewalt Strukturen benötigt, die sie mittragen – besonders, wenn sie in diesem Ausmass passiert, in dem sie MUTMASSLICH passiert ist, also seriell, über länger Zeit, in einem professionellen Kontext und geknüpft an Machtgefälle. Diese Form von Gewalt hat immer auch eine soziale und gesellschaftliche Komponente, sie isoliert zu betrachten, wird ihr und ihren Folgen nicht gerecht. Im Gegenteil: Die Gewalt wird dadurch aus ihrem politischen und gesellschaftlichen Kontext gerissen und durch das Abwälzen auf ein Individuum verharmlost. (Siehe «Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt» von Lilian Schwerdtner oder «Constructing the Victim» von Sharon Lamb.)
Auch die US-Amerikanische Psychiaterin Judith Herman befasst sich in «Trauma and Recovery: The Aftermath of Violence – from Domestic Abuse to Political Terror» (1992) ausführlich mit der gesellschaftlichen und politischen Dimension von Gewalterfahrungen. Grundlage für ihre Arbeit ist die Forschung zu Kriegstraumata in Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg, sowie die aktivistische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit häuslicher und sexualisierter Gewalt während der zweiten feministischen Welle. Gemäss Herman führen traumatische Erfahrungen oft zu Problemen mit dem Selbstwert, der Beziehung zur Welt und bringen starke Gefühle von Entfremdung und Nichtzugehörigkeit mit sich. Das fundamentale Selbstgefühl und das eigene Verhältnis zur Welt sind erschüttert. Wenn im Rahmen des traumatisierenden Ergeignisses auch Vertrauensbeziehungen verraten wurden, wenn also Menschen von denen Hilfe erwartet wurde, diese nicht boten, sondern die erlebte Gewalt passiv oder sogar aktiv begünstigten, ist das Verhältnis zur Gemeinschaft umso stärker erschüttert.
Im konkreten Fall bei der Republik gibt es zwei Ebenen von Gewalt: Einerseits die primäre Gewalt, die MUTMASSLICH ausgeübt wurde, andererseits das Begünstigen davon, das Abschieben von Verantwortung und die grundlegende Verharmlosung von sexualisierter Gewalt an sich. Margeret Urban Walker beschreibt diese zweite Ebene in «Moral Repair. Reconstructing moral relations after wrongdoing» (2006) sogar als potentiell schwerwiegender, als die eigentliche Gewalttat, da sie ein Wiederaufbauen des Grundvertrauens praktisch verunmöglicht, weil die dafür nötige soziale Basis fehlt. («The Second Rape: Society’s Conidued Betrayal of the Victim» von Lee Madigan und Nancy Gamble geht spezifisch auf diese Thematik ein.)
Mit der Mail vom 26.3.2018 von der damaligen Redaktionsleitung an die Mitarbeitenden, welche im Untersuchungsbericht «Summarische Schlussfolgerungen zum Auftrag 2» abgedruckt ist, wurde genau diese Basis zerstört. Dass diese Mittäterschaft nun weder von Seibt und Moser, die zu jenem Zeitpunkt die Redaktion leiteten, noch von den heute verantwortlichen Personen, benannt und anerkannt wird, scheint mir im besten Fall ein Zeichen davon, dass alle Beteiligten sich zu wenig mit der Materie befasst haben und es nicht besser wissen, oder aber es ist schlicht ein weiterer Akt der Gewalt. Es wurden damals aktiv Frauen zum Schweigen gebracht und zwar nicht nur jene Person, die sich gegen die Anstellung äusserte, sondern auch alle anderen, die es in Erwägung zogen, sich zu äussern, in diesem und in anderen Fällen. Und nun werden abermals Männer geschützt und nicht zur Verantwortung gezogen: Jene Männer, die ermöglicht haben, dass der betreffende Journalist auf der Republik-Redaktion MUTMASSLICH weitere fünf Jahre ungehindert Gewalt ausüben konnte. Fünf Jahre MUTMASSLICHE Gewalt dieses Ausmasses, heisst eine unbekannte Anzahl Betroffener, die mit zum Teil schwerwiegenden psychischen Folgen zu kämpfen haben.
Ein System das so funktioniert, hat nicht nur psychische, soziale und sogar tatsächliche neuronale Auswirkungen auf Individuen, sondern zerstört auch Karrieren. Dass eine MUTMASSLICH gewaltausübende Person entlassen wird, ist die Ausnahme. Viel häufiger ist, dass betroffene Personen die Arbeitsstelle oder sogar die Branche wechseln, oder unter grosser psychischer Belastung versuchen müssen, mit ihren Traumata und den ständigen Retraumatisierungen zu kämpfen und gleichzeitig einer Arbeit nachzugehen, die an sich sowieso schon belastend ist. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass das extrem schwierig ist: Ich habe von einem mir damals nahestehenden Mann (der übrigens auch journalistisch tätig ist) Gewalt erfahren, weil dieser nicht ertragen konnte, dass ich erfolgreicher war als er. Mit einer breiten Palette von Methoden psychischer Gewalt schaffte er irgendwann das, was er insgeheim angestrebt hatte: Ich war durch die von ihm verursachte Traumabelastung psychisch und physisch so am Ende, dass ich ein Jahr lang praktisch nicht mehr schreiben konnte. Diese und ähnliche Geschichten sind Realitäten für schreibende Frauen.
Worum es im Kern bei all dem geht, ist Macht: Wer hat was zu sagen, wem wird zugehört, wer fällt Entscheidungen, wer darf sich als Napoleon des Journalismus inszenieren. Auch bei sexualisierter Gewalt geht es nicht etwa um Lust, sondern um Macht. Sexualisierte Gewalt ist eine der effektivsten Methoden, um alle, die nicht endo cis männlich sind von Machtpositionen und sozialem Status fernzuhalten – und reduziert Betroffene ganz nebenbei auch noch auf ihren Körper. Der Geist bleibt den Männern vorbehalten.
Und wer genau übernimmt nun Verantwortung? Für die psychischen und sozialen Folgen, für die zerstörten Karrieren? Warum hören wir kein Wort von Constantin Seibt und Christof Moser, die in der Position gewesen wären, fünf Jahre MUTMASSLICHE serielle Übergriffe zu verhindern, die aber stattdessen entschieden, dass rücksichtslose Reportagen eines preisgekrönten Journalisten mehr wiegen, als sexualisierte Gewalt und seine Folgen? Warum wird dieses Verhalten nicht öffentlich verurteilt seitens der heutigen Verantwortlichen?
Vielleicht denkt die Republik ganz opportunistisch, dass sie es sich nicht leisten kann, noch eine hochkarätige Edelfeder zu verlieren. Aber das ist gar nicht so opportunistisch, wie es auf den ersten Blick ausschauen mag. Auf jede dieser hochkarätigen Edelfeder kommen fünf Journalistinnen, die ebenso gut, wenn nicht besser sind – oder es wären, ohne die ganzen Hürden und ohne die Gewalterfahrungen, welche das Arbeiten innerhalb solcher toxischer Strukturen halt so mit sich bringen.
Zu sagen, dass der Fall mit einer Kündigung des MUTMASSLICHEN Gewalttäters und ein paar betriebsinterner Workshops abgeschlossen ist, entspricht einer Weigerung einer strukturellen Aufarbeitung. Wenn nicht die volle Verantwortung dafür, dass Gewalt mit zum Teil schwerwiegenden Folgen für Betroffene ermöglicht wurde, übernommen wird, kann keine strukturelle Veränderung passieren. (Again: «Moral Repair» von Margaret Urban Walker.) Das bedeutet, dass wir alles andere als sicher sein können, dass so etwas nicht wieder passiert, dass nicht wieder Täter geschützt und Betroffene zum Schweigen gebracht werden.
Und noch eine Randnotiz zur Aussage Huissouds, dass er nicht glaube, die Vorwürfe gegen den Journalisten bei der «Republik» seien in der Medienbranche ein offenes Geheimnis gewesen. Wenn Michel Huissoud nichts von diesen Dingen gehört hat, dann heisst das weder, dass diese Dinge nicht existieren, noch, dass andere nichts davon gewusst haben. Es heisst einzig, dass er keine Vertrauensperson ist. Betroffene wissen sehr genau, wem sie sich anvertrauen können, wer zuhört und die Gewalterfahrungen ernst nimmt, bei wem man mit Empathie und Solidarität rechnen kann – und bei wem nicht. Wenn Huissoud also von nichts gewusst hat, dann ist er Teil des Problems. In der Natur eines Geheimnisses liegt, dass es geheim ist und auch bei einem offenen Geheimnis sind nicht zwingend alle mit eingeweiht, und es gibt Gründe dafür, wer es ist und wer nicht. Jemand, der dies nicht versteht und scheinbar nur an seine eigene Wahrnehmung glaubt, ist in einem solchen Prozess am falschen Ort. Denn wenn es um Übergriffe und Gewalt geht, ist der erste und wichtigste Schritt der Wahrnehmung anderer zu glauben.
So viel zu meiner Perspektive als Expertin und Betroffene. Wäre diese E-Mail ein Republikartikel, könnte ich bereits eine Monatsmiete verrechnen. Aber wieder einmal leiste ich unbezahlt Aufklärungsarbeit, wie so oft und wie so viele andere Betroffene auch, obwohl die Hoffnung, etwas zu bewirken, verschwindend klein ist. Dafür wurde mein Vertrauen in Aufarbeitungsprozesse bereits zu oft enttäuscht. Dabei wünsche ich mir doch nur, dass einfach mal jemand ernsthaft Verantwortung übernimmt, für die Gewalt, die er ermöglicht hat. Dass es nicht bei dem einen Funken Gerechtigkeit bleibt, sondern tatsächlich strukturelle Aufarbeitungen angegangen und damit strukturelle Veränderungen ermöglicht werden. Aber ich bezweifle, dass ich so etwas in näherer Zukunft miterleben darf. Prove me wrong, Republik.
12. November 2023
Danke so vielmals für deine wertvolle Arbeit. Für die Worte und Gedanken, welche - flinta - fühlt, aber Hintergrundwissen und Kraft für die Einordnung, Kapazitäten im Alltag fehlt.