Durch die Gläserne Decke mit «Erpresso Macchiato»
Hochkulturkorrespondent*in Sascha Rijkeboer zieht «Erpresso Macchiato» aus dem Sumpf patriarchal geprägter Rezensionen. Ein Text über ein grosses Stück auf einer kleinen Bühne.
In «Erpresso Macchiato» spielen die Schauspielerinnen Elmira Bahrami, Marie Löcker und Annika Meier auf der Kleinen Bühne am Theater Basel virtuos drei Agenten. Ich habe mir das Stück zweimal angesehen und beim ersten Mal hätte ich fast meine Begleitung verloren, weil sie dachte, das Stück sei scheisse. Über «Erpresso Macchiato» gibt es nämlich ausschliesslich schlechte oder joviale Theaterrezensionen. Und die hatte sie gelesen. Warum wohl, habe ich mich gefragt, steht das so da, wie es da steht? Ist da was dran? Mir wurde das Stück doch als eine gelungene feministische Inszenierung empfohlen, weil ich in der gleichen Woche «Moby Dick» gesehen hatte und die schauspielerische Leistung zwar handwerklich top, aber den klassischen Stoff same shit as always fand. Die Antwort ist leider etwas plump: Männer haben darüber geschrieben. Und sie haben das so männlich gemacht, wie sie nur konnten. So als hätten sie die Ironie des Stücks nicht verstanden, sondern als Auftrag (haha) interpretiert, ihren Habitus unbedingt beizubehalten.
Männliche Kulturjournalisten schaffen es Theaterrezensionen zu schreiben in denen sie die Schauspielerinnen als «freche Frauen» (bitte was?) bezeichnen, gar nicht erst beim Namen nennen oder ohne eine einzige Zeile über ihre Arbeit, nämlich das Spiel, auskommen. Grossväterlich bezeichnen sie «Erpresso Macchiato» als «Klamauk» oder «Blödel-abend» als eine Inszenierung an «der Grenze der Schlampigkeit» und erkennen es als ein Stück für ein «junges Zielpublikum».
Ohje, diese ernsten Männer. Ich würde ja gern schreiben: Sie haben einen Stock im Arsch, aber das fänden sie wohl schwul. Darüber könnten sie nicht lachen. Sie wollen lieber ernsten klassischen Scheiss ohne Humor sehen, wie Simon Baur, der für die Basler Zeitung schrieb, dass ihm «während 90 langen Minuten die Lust an der Theaterkunst geraubt» wurde (tbh: goals!). Die Rezensionen sind vorgestrig, das Stück aber wunderbar zeitgenössisch und idk aber für mich heisst zeitgenössisch nicht gleich jugendlich, diese Reduktion finde ich abwertend.
Fingerspitzengefühl
Aber worum geht es denn genau in «Erpresso Macchiato», ausser offenbar darum, Boomer-Boys auf die Palme zu bringen? Mit der Folie «Agentenfilm» wird eine zeitgenössische Analyse über Geschlechterungleichheiten gemacht. Sie ist zusammenhängend fragmentarisch: Der rote Faden dieses Systems ist die Glorifizierung von Männlichkeit(en) – egal wo sie auf dem Spektrum von unnahbar cool bis affig sind – und die Unterdrückung der Frauen. Das ist vorerst einmal keine neue Erkenntnis, aber es ist bedauerlicherweise eine andauernde. Der Mechanismus: Eine feministische (Selbst)Erkenntnis ist eine immerwährende neue Erarbeitung der eigenen Geschichte. Da feministische Geschichte, feministische Literaturklassiker, oder auch feministische Kunst noch immer Nischeninteressen sind, während alle Cristo und Rodin kennen, muss sich feministisches Wissen nach wie vor mühselig selber angeeignet werden. Die männliche Geschichte und Philosophie ist Standard, westliche Männergeschichte ist Menschheitsgeschichte.
Genau das nimmt «Erpresso Macchiato» auf: Als Persiflage von männlichen Agenten wird darüber gesprochen, wie man dieser Männer-Struktur ständig ausgesetzt ist. Elmira Bahrami als Agent Maximilian Lesignac ist nicht nur auf der Suche nach ihrem Auftrag (aka vielleicht auch mal eine Hauptrolle auf der Grossen Bühne), sondern auch nach ihrer Geschichte. Sie hat sie nämlich vergessen. Denn die Rollen der Frauen in Agentenfilmen – und meiner Vermutung nach eben auch immer noch am Theater – sind diejenigen der Nebenrollen, der Schönen, der Naiven, der Lasziven, aber klar immer der Zweitrangigen. Die grosse Bühne gehört den Männern und klassischen Epen. Oder Dürrenmatt.
Dabei können und kennen Elmira Bahrami, Marie Löcker und Annika Meier alles und zeigen eine unfassbar breite Palette ihres Potenzials: Kunstanalysen, Selbstironie, innere Monologe, Helden und Antiheldinnen, lange Textpassagen, Gesang. Sie brechen mehrmals und verschiedentlich die vierte Wand. Sie schaffen es gemeinsam den allerlangweiligsten Dialog der Welt auf die Bühne zu bringen, das ist Fingerspitzengefühl! Vor allem aber müssen die drei immer und immer wieder das zeigen, was die höchste Kunst am Theater bedeutet: Kontingenzmomente.
Eat it or die trying
Es ist eine kleine Produktion auf der kleinen Bühne, es gibt nicht viel Cash und kaum Ressourcen für das Szenenbild; mal funktioniert das nicht, mal jenes nicht, die Requisite «Auto» von Elmira Bahrami streikt angeblich seit den Endproben. Für Ersatz fehlt das Budget. Ein Produktionsplakat und Werbung gibt es nicht. Vor der Vorstellung muss ich mir die Jacke an der Garderobe selber aufhängen, einen Stock weiter unten gibt es für «Requiem» drei Angestellte dafür. All das ist so bezeichnend.
The Level of Improvisationstheater, das die Schauspielerinnen bei jeder Vorstellung auf die widrigen Umstände anwenden müssen, ist immaculate und beindruckt mich nachhaltig. Das Stück zwei Mal zu sehen, lohnt sich gerade deswegen umso mehr! Gleichzeitig denke ich mit einem lachenden und weinenden feministischen Augenzwinkern: Dass diese Umstände so widrig sind und den Spielerinnen ausserordentlich viel Erfindungsreichtum und Anpassungsleistung abverlangen, passt wie die agentische Faust aufs Auge. So ist es im richtigen Leben im Patriarchat nun mal. Eat it or die trying.
Die Persiflage, also der humorvolle Zugang, ist sehr erfrischend – man kann feministische Kritik durchaus trocken und theoretisch vermitteln und kryptisch von Strukturalität und Hegemonie und Machtverteilung referieren. Mich bei den gleichen Aussagen aber gekonnt zu unterhalten, ist gemessen an der Frustration, die man in einer Benachteiligung erlebt, ein ehrenvoller Akt.
Es ist genug Subtext für alle da
Die einzige einigermassen wohlwollende Rezension hat Felix Schneider für Bajour geschrieben. Er schafft es, die Namen der Schauspielerinnen zu nennen und ihr Spiel zu loben. Aber auch Schneider schreibt aus einer männlichen Perspektive: Es ist eine Aneinanderreihung von Namedropping. He, ich hab alles verstanden! Ich tscheck, dass dies eine Referenz auf Fritz Lang und Alfred Hichcock undsoweiter ist. Ob man die einzelnen Referenzen kennt oder dabei nur er-kennt, dass es sich wohl um eine handelt, merkt man während des Stücks durchgehend: Der Autor und Regisseur Franz Broich weiss, seinen Subtext kohärent anhand unzähliger kultiger und kultureller Bezüge zu erzählen. Manchmal lacht das ganze Publikum, manchmal lacht eine einzige Person, die diesen einen nerdigen Witz verstanden hat. I call this ziemlich inklusiv, da es ein grosses Zielpublikum anspricht. Aber um was für einen spezifischen Bezug es geht, das ist tatsächlich gar nicht so relevant, es ist nur die Folie.
Es geht um viel mehr, als um Agentenkult wie James Bond, Mission Impossible und Arthouse Crime-Cinema. Franz Broich, der das Stück zusammen mit den Schauspielerinnen geschrieben hat, schüttelt eine immense Dichte an aktuellen Themen aus dem Ärmel. Dass die Welt komplex, die Themen vielfältig und die Diskurse mehrsprachig sind, dessen sind sich die Schauspielerinnen und der Regisseur ganz offenbar bewusst, denn genau diese Mehrschichtigkeit und Gleichzeitigkeit lassen sie aufeinanderprallen und die Funken auf das Publikum regnen.
Es wird immerzu die eigene Rolle und Identität, ihre Konstruiertheit und Abhängigkeit reflektiert. Bin ich ich oder bin ich nur eine Rolle, die ich irgendwo gesehen habe? Und wenn ich nur eine Rolle bin aber auch Rollen als Schauspielerin spiele, welche Rolle der Rolle spiele ich am Schluss? Bin ich, egal wie viele Rollen ich spiele, aber immer eine Schauspielerin und eben kein neutraler Schauspieler? Diese und unzählige weitere Fragen stellt das Stück – ein schärferer Blick auf die zeitgenössische abendländische (Theater)Kultur habe ich bisher noch nicht gesehen. «Authenzitität ist lediglich ein Wort, dass ich nicht auszusprechen vermag», resümiert Annika Meier unglaublich smart in nur einem Satz.
Auf dem Berg der Aussichten
Dass eine*n die Welt überfordert, dass man gerne eine stringente klare Erzählung hätte, die von A nach B nach C den Diebstahl eines Kunstraubes nacherzählt und uns in 5 Akten schmeichelt – so ist die Welt nun mal nicht beschaffen. Ständiger Wechsel, Irritation, Überraschung, ein Auf und Ab und Verzweiflung sind die Regel. Was «Erpresso Macchiato» dennoch anbietet, ist eine Grosszügigkeit und eine Utopie: Einerseits wird der Überforderung mit Humor begegnet, nicht mit Gewalt, nicht mit Anklage, nicht mit elitärer Analyse, sondern mit Spass. Die Leute werden an der Hand genommen, dürfen loslassen und sich obendrein: überführen lassen. Diese Überführung will ich hier aber nicht weiter ausführen. Dass Männer jedoch auf keinen Fall überführt werden dürfen, dass es sie sogar «triggert», ist nicht weiter überraschend, auch wenn in ihren Texten jeweils nur Minderheiten getriggert werden können.
Andererseits wird zum Schluss eine Utopie gezeichnet: Gemeinsam erklimmen die drei Schauspielerinnen/Agenten den Berg der Aussicht. Beziehungsweise: Nein, sie erklimmen ihn nicht in einem Ansturm, sie helfen sich abwechslungsweise immer wieder gegenseitig hoch. Einmal oben angekommen, versinken sie in nachdenkliche Monologe über die Bedeutung des Seins, der Welt, der Realität, der Lüge und der Bestimmung. Marie Löcker sagt beispielsweise: «Eigentlich sieht das Ganze hier wirklich ganz schön aussichtslos aus, wenn du mich fragst. Was tun ohne Auftrag und ohne Aussicht? Man schaut sich um und alles ist ätzend und man weiss auch wieso, aber kann nichts machen. Wie umgehen mit dieser Aussichtslosigkeit? Da ist einfach keine verschissene Aussicht, scheisse! Ich habe keine Aussicht!» Wären drei Männerrollen genau den gleichen deep shit am Philosophieren da auf diesem Berg, ich wette, das hätten die Rezensenten genial gefunden und ein Cloud-Rap-Boy hätte eine Deephouse-Ode an die Freude auf die Brüderlichkeit abgemischt.
Elmira Bahrami reflektiert: «Ich hab ihn schon längst verloren, den Faden. Gottseidank. Sonst würd ich dem auch noch weiter folgen, in der Hoffnung, dass da was ist, was auf mich wartet.» Um diesen Faden, der kein einzelner ist, sondern ein verworrenes Netz an Zusammenhängen so vieler Strukturen und Geschehnissen in unserer Welt, geht es. Dass dieses Netz fragmentarisch zirkulierend erzählt wird, macht Sinn.
Durch die Gläserne Decke
Sie persiflieren nicht «nur» Männer, die drei frechen Frauen. Sie stellen damit Fragen, die sich Männer und Frauen zurzeit gerade wirklich stellen: Männer sollen sich nicht mehr mit dominierenden Brutalos identifizieren und sollten weniger Raum einnehmen, doch was wird ihnen angeboten? Und Frauen dürfen nun auch arbeiten und Karriere machen und ihre Kinder in die Kita schicken, aber sollten das irgendwie auch noch nicht so richtig. Was müssen Frauen und Männer heute alles? Männer und Frauen dürfen einiges mehr und sollten einiges weniger. Das überfordert, denn so ganz klar wer was soll, das ist es (noch) nicht. Die Aufträge sind vielzählig und verschwommen. Man muss sich abfinden, zuweilen ziellos sein. Die drei Schauspielerinnen – um sie nochmals beim Namen zu nennen: Annika Meier, Marie Löcker und Elmira Bahrami – glauben aber an eine Utopie und leben sie auch in berührender schauspielerischer Harmonie miteinander. Das Publikum glaubt ihnen das sofort.
Zusammen besteigen sie nicht nur den Berg der Aussichten, sondern auch einen befördernden Aufzug – ihren Traum – und durchbrechen die gläserne Decke. Hoffen wir, dass das Theater Basel nicht unter einem Stein in einer hochkarätigen Kunstgalerie schläft sondern vielmehr stolz erkennt, dass es «Erpresso Macchiato» gerade wegen der unzähligen Boomer-Boy-Rezensionen wohl kaum an heilsamer Sprengkraft mangelt. Das ist der Geist der Theaterkunst: Der Gesellschaft originell einen Spiegel vorhalten. Ob man Lust auf eine intelligente Herausforderung hat oder aber nur beschränkt und antiquiert in den Kulturteilen der Zeitungen rumballert; Letzteres ist bedauerlicherweise noch immer den alten Helden überlassen.
«Es gibt vielleicht keine Wahrheit und nur Lügen, aber das heisst nicht, dass es keine Liebe gibt», sagt der Agent Maximilian Lesignac zum Schluss und in diesem Sinne möchte ich bekennen: #notallmen. Ich liebe, wie Franz Broich hier ein wunderbares Stück gelungen ist, denn ich habe mich eines Vorurteils überführen lassen dürfen: Ich war aussichtslosbergfest davon überzeugt, eine Frau hätte das Stück geschrieben. Aber natürlich hat er es nicht alleine geschrieben, sondern mithilfe der drei Schauspielerinnen und lebt damit auch gleich die in «Erpresso Macchiato» konstruierte Utopie.
«Erpresso Macchiato» mit Elmira Bahrami, Marie Löcker, Annika Meier, Regie von Franz Broich und Text von Franz Broich und Ensemble ist noch zwei Mal auf der Kleinen Bühne am Theater Basel zu sehen: Am Dienstag 18.6.2024 und am Freitag 21.6.2024.