Nemo hat die Schweiz gebreakt
Das grosse ESC-Think-Piece featuring besorgte fundamentalistische Christen, überforderte Journalist*innen und Skandale ohne Ende am grössten «unpolitischen» Medienevent Europas.
Während meines Wienaufenthalts habe ich anscheinend mein Brain bis zum Reset ans Limit gebracht. Oder vielleicht habe ich es auch einfach als austherapiert abgespeichert, dass meine Therapeutin eine Weile Pause macht. Die zähen zwei Monate Frühlingsdepression sind jedenfalls vorbei und ich fühle mich wieder einigermassen wie ein Mensch und als Teil der Welt. Nach meiner Rückkehr bin ich 31 geworden und an meinem Geburtstagswochenende fanden die beiden grössten queeren Popkultur Events gleichzeitig statt, so dass ich mich entscheiden musste zwischen Eurovision Song Contest und Doctor Who Staffel Start. Doctor Who musste dann natürlich warten, weil der ESC lebt ja vom Live-Moment und dieses Jahr war sowieso alles nochmals etwas brisanter als sonst. So gab es etwa rund um die Teilnahme Israels bereits seit Monaten Kontroversen, eine erste Version des israelischen Beitrags wurde abgewiesen, es gab Boykottaufrufe, die Niederlande hatte in den Tagen vor dem Finale Beschwerden eingereicht und wurde schliesslich disqualifiziert, verschiedene Teilnehmende unterschrieben offene Briefe und trafen sich zu Krisentreffen und das alles unter der Leitung der European Broadcasting Union EBU, die sich in voller Überzeugung als «non-political media organization» bezeichnet. Als wär das nicht schon wild genug, waren die Favorit*innen ein Typ namens Baby Lasagna, der in seinem Beitrag Emigration thematisierte, Bambie Thug mit einer okkulten Hyperpop-Performance und Nemo mit der non-binären Coming-Out-Hymne «The Code» - endlich mal wieder ein interessanter Beitrag aus der Schweiz, nach all den langweiligen Sad Boys die das SRF in den vergangenen Jahren langweilige Balladen singen liess.
Dieses Jahr war jedenfalls wirklich für alle was dabei, auch für die fundamentalistischen Christen: Bambie Thug krönte nämlich Nemo im Moment des Sieges mit einer Dornenkrone und schuf damit den vielleicht ikonischsten Moment des diesjährigen ESCs, der nicht nur symbolisch aufgeladen, sondern an erster Stelle eine berührende Geste von Freundschaft und queerer Solidarität war. Nemo behielt die Krone während der Preisverleihung und der Siegesperformance an. Für die fundamentalen Christen war diese Krönung natürlich gar nicht cool. So liess sich Halleluja-Kolumnist Sam Urech bei Nau zu einem äusserst besorgten Kommentar hinreissen und fragte sich, ob Nemo sich als Messias für nonbinäre Personen sieht. Die Kolumne versammelt über 1'700 Kommentare unter sich und ist natürlich voller Hasskommentare, die sich aber überraschenderweise vorwiegend gegen den Halleluja-Dude richten, der laut den Verfassenden wahlweise ausgeschafft oder eingewiesen gehört. Bei anderen Medien, wie zum Beispiel dem SRF, waren die Kommentare hingegen oft offen queerfeindlich gegen Nemo gerichtet.
Dies fiel auch der SRF3-Moderatorin Judith Wernli auf, die drei Tage nach dem ESC-Finale mit einer bewegten Rede viral ging. Darin fragte Wernli: «Woher kommt der Hass? Wegen eines Liedes!» und erklärte den Zuhörer*innen, dass Beleidigungen doof sind. Die Speach hätte eins zu eins nach einem Streit im Kindergarten gehalten werden können – vielleicht abgesehen von jenen Stellen, die an das nationalistische Selbstverständnis appellierten: «Das [die Hasskommentare] hat unser Land nicht verdient. Wir sind eine kleine Nation, die sich gegen die Grossen durchsetzt.» Auch Nemo selbst habe die Angriffe nicht verdient, da Nemo so eine gute Performance hingelegt habe und auch noch total lieb sei. Damit wird der Hass komplett von seinem strukturellen Kern abstrahiert. Die Angriffe haben natürlich nichts mit Erfolg zu tun, sie sind alltägliche Erfahrungen ganz normaler queerer Menschen und niemand sollte den fucking grössten Wettbewerb der Welt gewinnen müssen, um Schutz vor Diskriminierung und Gewalt verdient zu haben. Vor Diskriminierung und Gewalt, die zunehmend ansteigt, nicht zuletzt wegen der Haltung mit welcher das SRF agiert.
Dass das Ansprechen von Missständen beim SRF ohne jegliche Vermittlung von Diskriminierungsstrukturen und -systemen auskommen muss, ist nämlich kein Zufall. Auch das SRF bedient inzwischen regelmässig transfeindliche Narrative und gibt fundamentalistischen Stimmen unwidersprochen eine Plattform. (Darüber hat zum Beispiel die Republik berichtet.) Zudem hat das SRF letztes Jahr die Benutzung von genderneutralem Sprachgebrauch wie etwa dem Genderstern unterbunden und sprach in einer Stellungsnahme von «Gendersprache». Nur schon diese Formulierung spricht Bände, denn die deutsche Sprache ist ja an sich bereits komplett durchgegendert. Konservative und faschistische Kräfte setzen zwecks abstrakter Dämonisierung schon länger wahllos «Gender» vor irgendwelche Wörter und in dieser Tradition bewegt sich auch das SRF, wenn von «Gendersprache» gesprochen und genderneutraler Sprachgebrauch unterbunden wird. (Damit begonnen hat btw der Vatikan, wie zum Beispiel Judith Butler in their neustem Buch «Who’s afraid of gender» aufzeigt. Wer nicht Butler lesen mag, dem sei dieses Youtube-Essay empfohlen.) Anstatt einen Schritt nach vorne zu machen und den Genderstern einzuführen, wurde also ein Schritt zurück gemacht, was nun absurderweise dazu führt, dass es dem SRF an Formulierungen mangelt für die Person, die es selbst nach Malmö geschickt hat. Nun muss das SRF seit Wochen mit eingeschränkten Möglichkeiten operieren und hundert Mal «das Gesangstalent» schreiben – und Nemo auch immer mal wieder misgendern. Nemos Genderidentität war so jedenfalls offensichtlich nicht vorgesehen und hat den binäre Code nicht nur auf der medialen Ebene ganz schön durcheinandergebracht, sondern auch auf der politischen, hat doch der Bundesrat gerade erst vor kurzem einen dritten Geschlechtseintrag abgelehnt und nonbinären Personen einmal mehr basically die Existenz abgesprochen.
Diese Entwicklungen hängen unmittelbar mit der antiqueeren Agenda verschiedener Akteur*innen zusammen, zu denen auch die SVP gehört. Diese greift im Moment auch wieder verstärkt die Finanzierung des SRF an, etwa mit der Volksinitiative «200 Franken sind genug!», worauf man beim SRF anscheinend nur damit zu reagieren weiss, dass man der SVP ideell entgegenkommt. Als liesse sich das rechte Lager jemals irgendwie besänftigen, dort wird keine Ruhe gegeben, bevor überall im Land nur noch Blocher TV und Weltwoche-Podcasts laufen. Faschisten die Hand zu reichen hat jedenfalls noch nie mehr Demokratie oder soziale Gerechtigkeit gebracht. Aber in der Schweiz galt Menschenverachtung auch schon während des zweiten Weltkriegs als valide «Meinung» und man will der scheiss SVP scheinbar halt wirklich lieber nicht auf die scheiss Faschofüsse treten.
Dass sich diese Genderkrise in einer Rede kumuliert, wie sie kürzlich viral gegangen ist, ist also irgendwie kein Wunder. Wernli mag ihre Speach auch völlig absichtlich so banal und naiv gehalten haben, in einem Versuch, den Kulturkampf irgendwie auszutricksen. Aber minimal die Basics systematischer Diskriminierung und Gewalt hätte man hier ausnahmsweise doch mal vermitteln können. Zur Feier des Tages vielleicht, weil wir haben den ESC gewonnen und dieses wir ist halt nun einmal genderqueer.
Ps.: Ich möchte gerne darauf hinweisen, dass eins Personen direkt unterstützen kann, die ehrenamtlich oder unterbezahlt zu diesem Thema arbeiten und sich durch ihre Exponierung zusätzlicher transfeindlicher Gewalt aussetzen. Zum Beispiel Mia Nägeli, auf deren intensiver Recherchearbeit mein Text aufbaut, oder Sascha Rijkeboer. Sascha setzt sich seit Jahren in Kommentarspalten, auf Social Media oder sogar in SRF-Sendungen für die Rechte von genderqueeren Menschen ein. Mia kann man via Ko-fi unterstützen, Sascha ist auf Steady zu finden. Ich empfehle ausserdem generell mehr Narrative und Inhalte zu konsumieren, welche die heteronormative cisgender Matrix aufbrechen. Zum Beispiel X Schneebergers Roman «swissminiature» oder das Projekt «Gendercocktail», an dem über ein Dutzend non-binäre Musiker*innen aus der ganzen Deutschschweiz beteiligt sind.
Eifach n1i takes.
gern witrmache
Danke für den Beitrag und auch danke für das Verlinken zu den anderen Beiträgen! Was würden wir nur ohne dich tun!