Paris Hiltons Superpower
Das kleine ADHS Think Piece. Neurodivergente Multimillionär*innen und eine unterirdische Spiegel Reportage ganz nach dem Motto: Hauptsache den Faschos gefällts!
Ngl, das Jahr so far ist crazy. Seit Weihnachten schwimme ich zwischen Album- und Liveproduktion, meinem scheiss Buch Gasbert, den alltäglichen silly little Duties und sonstigen Projekten, zwischendurch Interviews in Zoom Calls. Das geile Comeback-Jahr ist definitiv angebrochen. Ohne die ADHS-Medis, die ich seit Herbst drei bis vier Mal die Woche nehme, wäre ich schon längst wieder ein burnt out und dissozierendes Häufchen Elend. Also ich bin natürlich auch mit den Medis hin und wieder echt overwhelmed, aber mein Brain macht mir definitiv weniger Ärger also auch schon. Erholung brauche ich natürlich trotzdem, die Medikamente machen einen schliesslich nicht einfach bedingungslos zur Leistungsmaschine – auch wenn ich neuerdings beängstigend leicht und gerne Mails schreibe und Formulare ausfülle.
Deshalb bin ich für ein paar Tage ans Meer gefahren, alleine in die Bretagne, wo ich zwischen Spaziergänge an der rauen Küste und deftigen Gallettes auf entspannt an meinem Buch gearbeitet habe. Ich fühlte mich dabei so lebendig und zufrieden wie noch nie in meinem Leben, was natürlich kein Ausdruck von Tatsachen ist, sondern davon wie mein Brain funktioniert: Ein selektives Erinnerungsgedächtnis und ein Dopamin-Haushalt, der dafür sorgt, dass es safe nicht langweilig wird mit den Emotionen und so. Ein ausbalanciertes Life bleibt jedenfalls anderen vorenthalten, das musste ich langsam mal einsehen nach einem Jahrzehnt chaotischer Selbst- und Sinnfindung. Auch nachdem ich erst mit den Drogen aufhörte, dann mit dem Alkohol, dann mit dem Rauchen, nachdem ich begonnen habe mich ausgewogen zu ernähren und regelmässig zu schlafen, mich nicht mehr mit Arschlöchern abgab, mir eine sinnstiftende, strukturgebende Tätigkeit suchte, wieder begann zu schreiben und Musik zu machen, in Therapie ging, usw usw usw, kommen die nagenden Zweifel, die überwältigenden Gefühle von Sinnlosigkeit, die intrusiven Gedanken immer wieder. Das Mess lässt sich nicht überwinden oder wegtherapieren, denn dieses Mess ist mein Leben.
Hochfunktional und ausgebrannt
Dass Teile meines Gedächtnisses eher nicht so gut funktionieren, fiel mir auch erst auf, als ich mich mit meiner Neurodivergenz auseinanderzusetzen begann. Ich bin ein relativ classic Fall, viele Frauen werden erst spät diagnostiziert, oft auch erst nach ein paar Fehldiagnosen. Obwohl alle Geschlechter in ähnlichem Mass von ADHS betroffen sind, kommen auf sieben in der Kindheit diagnostizierte Jungen nur ein diagnostiziertes Mädchen. Bei letzteren zeigt sich ADHS oft unauffälliger, die Unruhe kehrt sich mehr nach innen, als nach aussen. (Mehr zu den Geschlechterverhältnisse gibt es einleitend bei dieser Checkliste für Frauen mit ADHS.)
Bei mir lief jedenfalls alles prima in der Schule und ausserdem bin ich eine overcompensating Bitch: Ich habe noch nie etwas verloren, ich weiss immer wo mein Schlüssel, mein Handy und meine Brieftasche sind, ebenso die Wertgegenstände der Leute um mich herum. Ich bin weder unzuverlässig noch hyperaktiv noch laut und habe noch nie einen Termin vergessen oder einen Zug verpasst. Ich habe immer alle meine Aufgaben und Verabredungen im Kopf und zusätzlich in meiner Agenda, sowie in meinem Wochenkalender aufgeschrieben. Das alles ist für mich eine aktive Anstrengung und je nach Tagesform geht das meiste meiner mentalen Energie drauf, alle diese Dinge zusammenzuhalten, weshalb ich nach drei Jahren Selbstständigkeit auch bereits komplett ausgebrannt war und mich erst mal zwei Jahre erholen musste.
Der Hype um Identitätspolitik
Mitte Januar hat der Spiegel ein Heft mit dem Titel «ADHS: Bürde oder Stärke? Der Hype um Hyperaktivität» gemacht. In der siebenseitigen Titelreportage wurden Influencer, Schauspieler*innen und Autor*innen portraitiert, Klischees reproduziert, sowie den Diskurs einmal mehr Richtung Modeerscheinung und Hype gedreht und shady Identitätspolitikvorwürfe bedient. So heisst es etwa im Zusammenhang damit, dass 5'000 Follower*innen einer ADHS-Influencerin, auf einen Termin für ein Abklärung warten: «(…) als käme die Bestätigung des Befunds einer Auszeichnung gleich, der erhofften Aufnahme in eine exklusive Gemeinschaft.» Anstatt sich an dieser Stelle ernsthaft mit dem Zustand des deutschen Gesundheitssystems auseinanderzusetzen, folgt eine Beschreibung von Trendverhalten: Während in Deutschland 2020 bei Google nur 300’000 Mal nach dem Begriff ADHS gesucht worden sei, sei die Zahl bis Ende 2024 zu knapp einer Million angestiegen.
Dahinter steckt derselbe Bias, den queerfeindliche Stimmen bedienen, wenn sie etwa Transidentität als Trend bezeichnen, weil die Anzahl Personen, die ihren Geschlechtseintrag ändern, seit einigen Jahren ansteigt. Faktoren wie, dass sich etwa trans Frauen bis 2017 in der Schweiz sterilisieren lassen mussten, wenn sie ihren Geschlechtseintrag ändern wollten, oder man erst seit 2022 den Geschlechtseintrag unbürokratisch direkt beim Zivilstandsamt ändern kann, werden dabei bewusst verschwiegen. Auch gesellschaftlicher Fortschritt, Sichtbarkeit und Aufklärung können zu einem Anstieg solcher Zahlen führen, wenn es um stigmatisierte Lebensrealitäten geht.
Der Spiegel schlägt den Link zu Queerness gleich selbst, in einem Abschnitt, der so wirr verschiedenste Dinge zusammenwirft, dass ich das unmöglich zitierten kann ohne fünf weitere Fässer aufzutun. Jedenfalls geht es nun um Identitätspolitik. Die Autor*innen stellen die Frage, was das Übertragen identitätspolitischer Kategorien aus dem Transaktivismus auf den Mental Health Kontext bedeute. Dabei verpassen sie, zu erwähnen, dass in diesem Kontext nicht etwa die sogenannten ~ADHS-Community~ oder die ~queere Szene~ diese Identitäten erschaffen, sondern die Autor*innen des Artikels selbst. Klar geht es bei diesen Communities auch um Selbstzuschreibungen und Identitäten, die sind besonders für marginalisierte Gruppen und für deren Befreiungskämpfe wichtig. Die Spiegel-Reportage hingegen konstruiert Identitätskategorien durch Othering und Vorurteile, um diese dann den Betroffenen vorzuwerfen. Es ist ganz einfach: Sobald etwas von der Mehrheitsgesellschaft abweicht, von der dominierenden weissen endo cis hetero neurotypischen ablebodied Norm, übertönt dies die vermeintlich neutrale, menschliche Identität. Dass irgendein Arschloch, das schlechte Reportagen schreibt, über die Geschichte des Fahrstuhls promoviert hat und mit der Kernfamilie in Berlin Charlottenburg wohnt, sich vermeintlich nicht genauso über Gender und Sexualität identifiziert, über zerebrale Vorgänge und Herkunft, ist dem Umstand geschuldet, dass seine Identitätsmerkmale nie herausgefordert werden. Er trifft nicht auf die Grenzen gesellschaftlicher Normen, erfährt keine Gewalt aufgrund seiner Identität.
Viele Takes in dem Artikel sind so unfassbar inkohärent – oft sogar faktisch falsch –, dass der Verdacht aufkommt, dass hier mal wieder eine Kontroverse simuliert wird, wo es keine gibt, so wie es viele Medien in den vergangenen Jahren zunehmend praktiziert haben, um faschistischen Ideen eine Plattform zu geben. Diese Vermutung verstärkt sich, wenn man den auf die Reportage folgenden Artikel liest, in dem zwei Fachärzte befragt werden und einige Punkte aus dem Leitartikel direkt widerlegen. Es geht also nicht mehr um Fakten, es geht um Kontroversen, geile Diskurse, catchy Titel – Hauptsache die Faschos fühlen sich auch abgeholt. Und das alles passiert immer auf dem Rücken von Gruppen, die um einen Platz in der Gesellschaft kämpfen, für ihre Gesundheit, ihre Rechte, ein Leben in Würde. Dementsprechend geht es überhaupt nicht (nur) um Identitäten, sondern darum, dass das bisschen hyperaktiv sein, das wir als ADHS kennen gelernt haben, reale Auswirkungen auf unsere Leben hat.
Der Struggle ist real
Im Prozess der Auseinandersetzung mit meinem Brain tauchen immer neue lustige Symptome oder Hinweise auf Neurodivergenz auf. Wenn ich früh morgens oder abends nach einem langen Tag Termine habe, bin ich besonders unzufrieden mit der Anordnung von Möbeln oder sonstigen Gegenständen, mit der Ausrichtung und der Beschaffenheit meiner Sitzgelegenheit, mit den Lichtverhältnissen oder mit starken Gerüchen. Meine Handschrift ist oft unleserlich und inkohärent, je nach Schreibgerät, Papierbeschaffenheit oder Tagesform mache ich ständig Fehler, als würde meine Hand über die Wörter stolpern. Wenn Dinge sich spontan ändern, besonders solche auf die ich mich eingestellt habe oder die fester Bestandteil meiner Routine sind, bin ich in der Regel nicht so erfreut. Meine Biographie ist so far auch ziemlich typisch, mit den Drogenerfahrungen, einigen psychischen Tiefpunkten, gescheiterter Berufseinstieg und stattdessen eine ziemlich seltsame Karriere. Inzwischen arbeite ich selbstständig, projektbezogen und in Kollektiven, in denen es keine Chefs gibt, mit denen ich Beef haben könnte. Geschätzt die Hälfte meiner Peers in der Kulturbranche, egal in welcher Rolle, sind neurodivergent, einige diagnostiziert, manche nicht. Hier gibt es Freiheit, lose Strukturen, flexible Arbeitszeiten, Sinnhaftigkeit und Ideale – alles Dinge, die für viele von uns stärker wiegen als Sicherheit und Stabilität.
Es gibt Studien, die weisen klar auf eine Korrelation von Neurodivergenz und Armut hin: Überdurchschnittlich viele Menschen die obdachlos sind oder im Gefängnis sitzen, haben ADHS, für letzteres gibt es Zahlen von bis zu 40% der Insassen – während in der Gesamtbevölkerung nur ungefähr 5% Erwachsene von ADHS betroffen sind. Auch gibt es Hinweise auf Korrelationen zwischen Neurodivergenz und Gendervarianz. Man geht zum Beispiel davon aus, dass neurodivergente Menschen eher dazu neigen, das binäre Geschlechterregime zu hinterfragen und die aufgezwungenen Rollen ablehnen. Wiederum gibt es Korrelationen zwischen Queerness und Armut. Queere Menschen sind häufig armutsbetroffen, je marginalisierter desto gefährdeter. Was ich sagen will: Der Struggle ist real – der Hype ist es nicht.
Paris Hiltons Superpower
Der Diskurs rund um ADHS wird aber nicht in erster Linie von Stimmen geprägt, die armutsbetroffen sind, sondern von jenen, deren Leidens- in Erfolgsgeschichten aufgehen. Zu diesen gehören Trevor Noah und Paris Hilton. Noah spricht schon länger offen über seine Diagnose, seit einiger Zeit auch Paris Hilton, die letztes Jahr den Song «ADHD» rausbrachte, in dem sie singt: «My Superpower was right inside, see? It was ADHD.» Bitch, deine Superpower ist nicht die Diagnose, deine Superpower ist Geld. (Der Song ist trotzdem ein Banger!!)
Trevor Noah und Paris Hilton sind beide Multimillionär*innen und es ist davon auszugehen, dass sie keine Emails schreiben, keine Steuererklärung ausfüllen, Essen zubereiten, Wäsche waschen, nicht ganz alleine einen Alltag zusammenhalten müssen. Trevor Noah sagte einmal in einem Interview, er nehme keine Medikamente, da eine erratische Arbeitsweise für seine Kunst wichtig sei. Paris Hilton antwortete auf die Frage nach Strategien, dass es sehr hilfreich sei, ein unterstützendes Team um sich zu haben, das ihre Arbeitsweise unterstünde. Und ausserdem ihre abendliche Skin-Care-Routine, lol. Also ich fände meine Neurodivergenz auch geil, mit 100 Millionen Dollar und einem Team im Rücken, das sich um alles kümmert, was meinem Brain schwerfällt, das mir den Alltag organisiert, während ich mich jenen Dingen widmen kann, die meinem Dopamin-Haushalt entsprechen. Aber ich habe kein Team, deshalb brauche ich Medikamente und Struktur und Therapie, damit mein Leben nicht wieder auseinander fällt.
Auch fände ich meine Neurodivergenz etwas cooler, wenn es mehr Aufklärung und Unterstützung gegeben hätte und ich mich nicht erst mit Anfang Dreissig damit auseinandersetzen müsste, warum mein gesamtes bisheriges Erwachsenenleben ein von psychischen Krisen und Prekarisierung geprägtes Chaos war. Auf diesem Hintergrund in sogenannten Leitmedien zu lesen, eine Diagnose sei eine Auszeichnung und Neurodivergenz ein Hype, ist bitter. Da gebe ich mir dann doch lieber Interviews mit Trevor Noah oder Reels von Paris Hilton. Die wissen wenigstens wovon sei reden.
Wer übrigens auch weiss, wovon sie reden, sind Angelina Boerger und Olivier David in der Folge zu ADHS und Klasse bei Oliviers Podcast «Klassentreffen» – Empfehlung!
Es ist mir selber auch peinlich mich immer wie so ein Fanboy zu benehmen. Aber das ist mal wieder fantastisch gut geschrieben. Danke. Danke Danke.
Zu deinen Gedanken in Bezug auf Normen, möchte ich zwei Aspekte anfügen. Erstens Masking. Zweitens geschichtliche Ursprünge des "Normalitätsbegriffes". Ich denke ein wichtiger Grund wieso bei sehr viel weniger Mädchen ADHS, und das gleiche gilt auch für Autismus, früh erkannt wird ist weil ihnen das Masking sehr viel stärker aufgezwungen wird, gesellschaftlich und familiär pipapo. Dort müssten wir ansetzen. Zur Geschichte, empfehle ich sehr das Buch von Chapman Empire of Normality. Da geht es zwar im Kern um Autismus und Neurodivergenz, aber they führen extrem schön die Geschichte her, wie das Normalitätsdenken sich in der Medizin und Forschung durchgesetzt hat, und zeigt die direkte Linie auf von Quetelet (Normdenken) zu Galton (Eugenik) zu Faschismus, und weiter so bis in die Neuzeit. Umso schockierter war ich neulich als in der WoZ-Beilage Wobei Quetelet unkritisch abgefeiert wurde.